Versorgungssicherheit noch auf Messers Schneide / Von Matthew Dalton
PARIS (Dow Jones)–Noch vor wenigen Monaten stichelten russische Politiker gegen Europa wegen eines bevorstehenden brutalen Winters. Europa wappnete sich für eine Energiekrise von historischem Ausmaß. Dann gelang es, den Widrigkeiten zu entkommen – zumindest vorerst. Dank eines kontinentweiten Energiesparprogramms und milden Witterungsbedingungen ist der Kontinent auf dem besten Weg, einer lähmenden Energiekrise zu entgehen. Eine solche hatten viele befürchtet, als Russland im vergangenen Jahr die Erdgasversorgung des Kontinents einstellte.
Haushalte und Unternehmen in ganz Europa verbrauchen deutlich weniger Energie als erwartet, auch dank des rekordverdächtig warmen Wetters, das in den vergangenen drei Wochen herrschte. Und die hohen Preise haben einen starken Sparanreiz geschaffen. Derweil scheinen die Aufklärungskampagnen der Regierungen, die zum Energiesparen anspornen, zu funktionieren, so Analysten. „Das Bewusstsein dafür, wie wir Energie verbrauchen und wie viel sie kostet, ist größer als je zuvor“, sagte Brian Motherway von der Internationalen Energieagentur (IEA). „Die Reaktion darauf ist sehr beeindruckend.“
Der Nachfragerückgang hat einen Sicherheitspuffer für die europäischen Gaslieferungen geschaffen, die sich seit dem Einmarsch in der Ukraine von Russland auf andere Produzenten, vor allem die USA und Norwegen, verlagert haben. Die wichtigste neue Versorgungsquelle ist importiertes Flüssigerdgas, in erster Linie aus den Vereinigten Staaten. Der Kontinent bemüht sich um den Bau neuer LNG-Terminals, von denen das jüngste am Ende der Vorwoche in Lubmin an der Ostseeküste an den Start ging. Die europäischen Gasspeicher sind zu etwa 82% gefüllt und liegen damit weit über dem normalen Stand von etwa 65% zu diesem Zeitpunkt im Winter. Von daher veranlassen die unerwarteten Lieferungen die Ökonomen dazu, ihre Wirtschaftsprognosen für die Region nach oben zu korrigieren. Sie haben auch den geringen Einfluss geschwächt, den der russische Präsident Wladimir Putin noch hat, um Europa von der Unterstützung der Ukraine abzubringen.
Angst vor Deindustrialisierung
Europas Energiesorgen sind aber noch lange nicht vorbei. Nach Ansicht von Analysten stellt sich vor allem die Frage, wie viel Not und wirtschaftlicher Schaden durch die Bemühungen um Energieeinsparungen entstanden sind. Groß angelegte Schließungen energieintensiver Industrien drohen die industrielle Basis Europas zu erodieren. Einige Haushalte sehen sich trotz ihrer Bemühungen, weniger zu verbrauchen, steigenden Strom- und Gasrechnungen gegenüber. Die europäischen Gaspreise sind im historischen Vergleich nach wie vor hoch und machen eine langfristige Bedrohung für die Produktionsbasis des Kontinents aus. Durch die Unterbrechung der russischen Lieferungen ist Europa in hohem Maße auf verflüssigtes Erdgas (LNG) angewiesen, das hauptsächlich per Schiff transportiert wird und wesentlich teurer ist als Gas, das über Pipelines angeliefert wird.
Bislang hat Europa seinen Energieverbrauch gesenkt, ohne das Wirtschaftswachstum stark zu beeinträchtigen. Nach Angaben der IEA ist die Gasnachfrage in der EU im vierten Quartal um schätzungsweise 20% gegenüber dem Vorjahreszeitraum zurückgegangen. In Frankreich ist der Stromverbrauch im vergangenen Monat temperaturbereinigt um fast 10% gesunken. Der Gasverbrauch in Deutschland lag nach Angaben der Bundesnetzagentur seit Anfang Dezember witterungsbereinigt um 15% unter den Erwartungen. Überall auf dem Kontinent drehen die Menschen ihre Thermostate herunter, installieren Wärmepumpen und renovieren ihre Häuser, um die Effizienz zu verbessern. Die Hersteller haben ihren Gasverbrauch gesenkt, indem sie, wo möglich, auf Heizöl umgestiegen sind oder ihre industriellen Prozesse verschlankt haben. Andere wiederum schränken ihre gasabhängige Produktion ein und importieren Ersatzstoffe aus den USA, dem Nahen Osten und anderen Regionen, in denen die Versorgung wesentlich günstiger ist als in Europa. „Die Fähigkeit, sich anzupassen und die Effizienz zu verbessern, übersteigt alles, was ich bis zum vergangenen Sommer für möglich gehalten hätte“, erläutert Yara-Chef Svein Tore Holsether. Yara ist ein Düngemittelhersteller, der zu den größten Gasverbrauchern in Europa gehört.
Seitdem die Gaspreise im Jahr 2021 in die Höhe geschnellt sind, hat Yara seine europäische Produktion von Ammoniak, einem Vorprodukt von Düngemitteln, das auf Gas als Rohstoff angewiesen ist, je nach dem Preis des Brennstoffs erhöht und gesenkt. Dadurch konnte das Unternehmen die Düngemittelproduktion aufrechterhalten und gleichzeitig den gasintensivsten Schritt in andere Fabriken verlagern, wenn die Gaspreise stiegen. Als Russland im Februar vergangenen Jahres in die Ukraine einmarschierte, war die Energieversorgung Europas äußerst gefährdet. Die Gasspeicher der Region waren wegen der starken Nachfrage, die durch die Erholung der Weltwirtschaft von der Pandemie angeheizt wurde, und der geringeren Lieferungen vom Gasmonopolisten Gazprom, zur Neige gegangen.
Die Befürchtungen hinsichtlich der Energieversorgung im Winter wuchsen, als Russland im Juni damit begann, die Lieferungen über die Nord-Stream-Pipeline, zu kürzen. In Europa galt dieser Schritt als Versuch des Kremls, den Kontinent für die Unterstützung der Ukraine mit militärischer Ausrüstung und Sanktionen gegen Moskau zu bestrafen. Russische Politiker begannen, Europa mit Warnungen zu verspotten, dass der Kontinent im kommenden Winter erfrieren würde.
Aussichten sind nicht schlecht
Jetzt bieten die gesunden Gasvorräte des Kontinents sogar einen gewissen Trost für den nächsten Winter. Wenn Europa die Saison mit relativ hohen Gasvorräten abschließt, müssen Regierungen und Versorgungsunternehmen keine großen Mengen kaufen, um die Speicher vor dem nächsten Winter zu füllen. Das dürfte dazu beitragen, die Preise in diesem Sommer niedrig zu halten, so Analysten. Die Versorgung ist aber weiterhin gefährdet. Russland, das immer noch etwa 8% des Erdgases für die EU liefert, könnte diese ganz einstellen. Chinas Wirtschaft öffnet sich wieder, nachdem die Regierung ihre Null-Corona-Politik aufgegeben hat. Analysten zufolge wird dies wahrscheinlich die Nachfrage aus der Volksrepublik nach Flüssiggasimporten erhöhen und die Preise auf dem Weltmarkt in die Höhe treiben.
Klimawissenschaftler sagen außerdem, dass Europa zunehmend von Hitzewellen und Dürren bedroht ist, die im vergangenen Sommer die Wasserkrafterzeugung des Kontinents, eine der wichtigsten Stromquellen, stark beeinträchtigt haben. „Es gibt immer noch keine Redundanz im System“, sorgt sich Ben McWilliams von der Denkfabrik Bruegel in Brüssel. „Wir sind immer noch in einer Situation, in der die Preise massiv ansteigen könnten, wenn es ein Problem gibt.“ Dennoch sagen Analysten, dass die Fähigkeit Europas, den Energieverbrauch in diesem Winter zu senken, zeigt, wie die Region ihre Wirtschaft vor externen Energieschocks schützen kann.